BGH, Beschl. v. 30.01.2018 - 4 StR 284/17 (LG Essen):
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 7. Februar 2017
a) im Fall II. 2 der Urteilsgründe (Tat zum Nachteil des Nebenklägers P.) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Nötigung schuldig ist,
b) im Fall II. 3 der Urteilsgründe (Tat zum Nachteil der Nebenklägerin W.) sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung sowie vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und vier Monaten verurteilt. Seine Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung zum Nachteil der Nebenklägerin W. (Fall II. 3 der Urteilsgründe) hat keinen Bestand.
1. Das Landgericht hat dazu im Wesentlichen Folgendes festgestellt: Nachdem der Angeklagte, die Nebenklägerin und ein gemeinsamer Bekannter in den Abendstunden des 26. Juli 2015 auf einem Platz in M. über mehrere Stunden hinweg Alkohol konsumiert hatten, begab sich die angetrunkene Nebenklägerin, begleitet von dem Angeklagten, auf den Nachhauseweg. An einer abgelegenen Stelle stieß der Angeklagte die völlig überraschte Nebenklägerin zu Boden, riss ihr die Kleider vom Leib, kniete sich auf sie und verlangte die Durchführung des Oralverkehrs, während er ihr seinen Penis vor den Mund hielt. Als sie schrie und den Angeklagten zu kratzen versuchte, schlug er unter anderem dreimal mit seiner Faust gegen ihren Kopf. Unter dem Eindruck der erlittenen Schläge und angesichts der überlegenen Körperkraft des Angeklagten nahm die Nebenklägerin den Penis des Angeklagten daraufhin in ihren Mund. Da sie die Durchführung des Oralverkehrs aber nicht über sich brachte, drehte sie ihren Kopf weg, wodurch das Geschlechtsteil des Angeklagten aus ihrem Mund geriet. Daraufhin würgte sie der Angeklagte mit seinen Händen, um den Oralverkehr doch noch zu erzwingen. Nachdem die Nebenklägerin infolge des Würgens das Bewusstsein verloren hatte, ließ er von ihr ab und entfernte sich vom Tatort.
2. Das angefochtene Urteil war im Fall II. 3 aufzuheben. Die Beweiswürdigung leidet an durchgreifenden Rechtsfehlern; sie ist insbesondere lückenhaft. Die Urteilsgründe belegen die Voraussetzungen einer vollendeten Vergewaltigung (hier: Oralverkehr) nicht.
a) In einem Fall, in dem – wie im vorliegenden – Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH,Beschluss vom 25. November 1998 –2 StR 496/98, NStZ-RR 1999, 108; Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 StR 156/00, NStZ 2000, 496, 497). Deshalb ist es in derartigen Fällen in der Regel erforderlich, die Entstehung und Entwicklung der betreffenden Aussage im Urteil zu erörtern (BGH, Beschluss vom 23. Mai 2000 aaO; vgl. auch BGH, Beschluss vom 4. Juli 2007 – 2 StR 258/07, StV 2008, 237, Rn. 6).
b) Diesen erhöhten Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
aa) Der Angeklagte hat den Tatvorwurf insgesamt bestritten. Dem angefochtenen Urteil ist zu entnehmen, dass die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung u.a. bekundete, keine „genaue und zusammenhängende“ Erinnerung mehr an das Tatgeschehen im Allgemeinen und keine „besonders klare Erinnerung“ an den Oralverkehr im Besonderen zu haben. Dessen zeitliche Einordnung konnte sie nur im Wege der Rekonstruktion des Geschehensablaufs insgesamt vornehmen. Sie war sicher, dass der Angeklagte von ihr den Oralverkehr verlangt hatte, zeigte sich jedoch unsicher, „ob und wenn ja wann“ sie den Penis des Angeklagten in den Mund genommen hatte. Im weiteren Verlauf der Vernehmung erklärte sie, sie sei sich insoweit „zu 40–50% sicher“. Das Landgericht hat sich vom Tageschehen einschließlich des Oralverkehrs auf der Grundlage der von ihr als glaubhaft eingestuften Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung überzeugt. Die „in einigen Punkten fehlende Konsistenz“ zwischen ihrer Aussage bei der Polizei nach der Tat und in der Hauptverhandlung sei mit ihrer Verwirrtheit infolge des Würgevorgangs und ihrer „Einstellung zur Polizei“ erklärbar; sie habe bei der Anzeigeerstattung den Eindruck gehabt, man schenke ihren Angaben dort keinen Glauben. Entscheidend für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben spreche, dass sie in ihrer zusammenhängenden Aus-sage davon ausgegangen sei, den Penis des Angeklagten im Mund gehabt zu haben,und dass sie ihre Gefühle unmittelbar davor und danach habe beschreiben können. Es sei zwar möglich, dass der Angeklagte von seinem Vorhaben, den Oralverkehr zu vollziehen, Abstand genommen habe. Ein Grund dafür sei jedoch nicht ersichtlich, weshalb insoweit nach einer Gesamtschau „keine vernünftigen Zweifel“am Vorliegen eines vollendeten Oralverkehrs verblieben.
bb) Es kann dahinstehen, ob diese Erwägungen des Landgerichts bereits für sich genommen den Anforderungen an eine widerspruchsfreie Würdigung des Beweisergebnisses noch genügen oder die Beweiswürdigung insoweit – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs im Revisionsverfahren (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20 f.; Urteil vom 6. Dezember 2007 – 3 StR 342/07, NStZ-RR 2008, 146, 147) – wegen widersprüchlicher Ausführung zur Vollendung eines Oralverkehrs an einem auf die Sachrüge zu beachtenden Rechtsmangel leidet.Die Beweiswürdigung ist insoweit jedenfalls durchgreifend lückenhaft, weil die Angaben der Nebenklägerin bei der Polizei und die Umstände der Aussageentstehung nicht mitgeteilt werden. Ob das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin gerade zur Frage der Vollendung des Oralverkehrs zutreffend bewertet hat, kann der Senat daher letztlich nicht überprüfen.Der Verweis auf die „in einigen Punkten“ fehlende Konsistenz zwischen ihrer Aussage bei der Polizei und ihren Angaben in der Hauptverhandlung vermag diese Lücke nicht zu schließen, weil schon offen bleibt, ob sich die Abweichungen im Aussageinhalt auf das Kerngeschehen(Oralverkehr)oder lediglich auf Umstände am Rande beziehen. Es kommt hinzu, dass die im Urteil mitgeteilten Fragmente der Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung erhebliche Widersprüche aufweisen, wovon auch die Strafkammer erkennbar ausgeht. Diese Widersprüche und Unsicherheiten betreffen jedoch den Kern des Tatvorwurfs einer vollendeten Vergewaltigung in Gestalt erzwungenen Oralverkehrs. Eine umfassende Darlegung aller Bekundungen der Nebenklägerin vom Zeitpunkt der Anzeigeerstattung an war daher umso mehr geboten.
3. Darüber hinaus begegnet die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe auch die Voraussetzungen der Qualifikationen des § 177 Abs. 4 Nr. 2a und b StGB aF bzw. § 177 Abs. 8 Nr. 2a und b StGB nF erfüllt, mit Blick auf die subjektive Tatseite durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der subjektive Tatbestand setzt für beide Tatmodalitäten mindestens bedingten Vorsatz voraus. Bezüglich Nr.2a muss sich dieser auf die besonderen Folgen der Tat beziehen; ein gewöhnlicher Körperverletzungsvorsatz genügt nicht (MüKo-StGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 177 Rn. 86). Auch hinsichtlich der Verursachung der Lebensgefahr muss der Täter (zumindest bedingt)vorsätzlich gehandelt haben. §18 StGB findet insoweit keine Anwendung (vgl. dazu i.E. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2000 – 4 StR 464/00, BGHSt 46, 225, 226 ff. mwN). Zu den diesbezüglichen Vorstellungen des Angeklagten verhalten sich die Urteilsgründe jedoch nicht.
Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.
II.
1. Im Fall II. 2 der Urteilsgründe (Tat zum Nachteil des Nebenklägers P.) führt das Rechtsmittel des Angeklagten zu einer Änderung des Schuldspruchs.Die Strafkammer hat in diesem Fall den Tatbestand der sexuellen Nötigung gemäß § 177 Abs. 1, 2 Nr. 5 StGB in der zum Zeitpunkt der Urteilsfällung geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I 2460) mit der Begründung angewendet, dass diese Vorschrift bei ansonsten gleichem Strafrahmen im Unterschied zu § 240 Abs. 1, 2 i.V.m. Abs. 4 Nr. 1 StGB aF einen minder schweren Fall vorsehe. Es hat indes die Voraussetzungen eines solchen minder schweren Falles mit rechtlich nicht zu beanstandender Begründung verneint. Ist bei der gebotenen konkreten Betrachtungsweise (vgl. dazu Fischer, StGB, 65. Aufl., § 2 Rn. 10) der jeweilige Strafrahmen aber identisch, ist das zur Tatzeit geltende Recht anzuwenden (BGH, Beschluss vom 26. Mai 1998 – 4 StR 184/98; Fischer, aaO, Rn. 10a). Der Senat ändert den Schuldspruch dahin ab, dass der Angeklagte der Nötigung schuldig ist. Der Strafausspruch bleibt davon unberührt. Nach den Urteilsgründen ist auszuschließen, dass das Landgericht einen Fall angenommen hätte, in dem trotz Erfüllung des Regelbeispiels der Strafrahmen des § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB aF nicht zur Anwendung gekommen wäre.
2. Im Übrigen (Fall II. 1 der Urteilsgründe, Tat zum Nachteil der Nebenklägerin K.) hat die Nachprüfung des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben."